Humboldt-Universität zu Berlin - Die zentrale Frauenbeauftragte

Interview

 „Es ist ein besseres, ein gerechteres, ein dem Unrecht angemessenes Strafrecht
Interview mit der Strafrechtlerin Prof. Dr. Tatjana Hörnle (HU Berlin). 
Amrei Sander (AS): Frau Hörnle, am 7. Juli dieses Jahres ist eine Reform des Sexualstrafrechts verabschiedet worden. Könnten Sie uns die Unterschiede zum alten Gesetzestext darlegen?

 

Tatjana Hörnle (TH): Das bisherige Recht basierte auf der Idee, dass nur eine Nötigung strafbar ist bzw. ein sexueller Missbrauch. Eine Nötigung hat bisher Gewaltanwendung oder eine Drohung vorausgesetzt. Das ist das Grundmuster, das dann ergänzt wurde durch die Ausnutzung einer schutzlosen Lage. Aber das Grundmuster war immer: der Täter muss das Opfer einschüchtern, damit es keinen körperlichen Widerstand leistet, und nur dann ist eine sexuelle Handlung strafbar. Die große Lücke war: Wenn jemand „Nein“ sagt – ausdrücklich, explizit „Nein“ sagt – war das kein hinreichender Grund für Strafbarkeit. Diese Lücke ist jetzt geschlossen worden. 

 

AS: Das war ja vorher in der Praxis tatsächlich so, dass das, was wir als Laiinnen als Drohung verstehen, zum Beispiel die Drohung, Gewalt gegen Familienmitglieder oder Haustiere auszuüben, juristisch gar nicht als Drohung gewertet wurde. Der Deutsche Juristinnenbund hat auf seiner Homepage viele Beispiele dafür gesammelt. 

 

TH: Richtig. Es gab durch diese Notwendigkeit, dass besondere Umstände vorliegen – nämlich Drohung oder Gewalt – immer Lücken. Denn wenn diese besonderen Umstände nicht vorlagen, reichte ein klares „Nein“ nicht, um die Tat zu verurteilen. Dies war für Außenstehende überhaupt nicht verständlich. 

 
Sabine Blackmore (SB): Wie beurteilen Sie die Reform? Wird sie tatsächlich den gewünschten Durchbruch bringen?

 

TH: Das kommt darauf an, was Sie unter Durchbruch verstehen. Die Änderung bedeutet eine Verbesserung der Gesetzeslage. Sie bedeutet, dass das Verbot im Strafrecht dem angemessen ist, was Unrecht ist, nämlich den entgegenstehenden Willen einer Person zu missachten. Wenn Sie als Durchbruch verstehen, ob es ein besseres, ein gerechteres, ein dem Unrecht angemessenes Strafrecht ist – ja. 

 

AS: Nun gibt es Statistiken, wonach die Verurteilungsquote bei Sexualstraftaten in den letzten Jahren sogar immer weiter abgenommen hat und die Anforderungen, damit eine sexuelle Nötigung bewiesen werden kann, immer höher geworden sind. Oft wird angeführt, dass ein „Nein“ schwerer zu beweisen sei als z.B. physische Gewalt, die ja oftmals Spuren hinterlässt. Hat die Gesetzesänderung also lediglich symbolischen Wert? Oder denken Sie, dass das Gesetz in der Praxis dazu führen wird, dass mehr Betroffene Recht bekommen?

 

TH: Lediglich Symbolwert wäre zu negativ. Es gibt nicht sehr viel empirisches Material, wie Fälle durch das Strafverfahrenssystem wandern. Allerdings gibt es eine interessante neuere Studie aus Bremen. In dieser Studie wurden Einstellungen [von Verfahren, S.B.] nach altem Recht untersucht. Da kam immerhin raus, dass 20% aller Einstellungen von der Staatsanwaltschaft damit begründet wurden, dass der Vorfall nach bisherigem Recht nicht strafbar ist. Diese 20% sind interessante Fälle. Denn da ist zu hoffen, dass in solchen Fällen in Zukunft das neue Recht, das ja breiter ist, mehr zulässt. Allerdings entstehen die meisten Einstellungen, weil viele Frauen nach der Anzeige plötzlich von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Das ist die größte Gruppe, weil auf Frauen, die zunächst Anzeige erstatten, Druck ausgeübt wird und diese dann die Anzeige zurückziehen. 

 

AS: Also im Prinzip Frauen in Gewaltbeziehungen.
 

TH: Es ist anzunehmen, dass das dahinter steht. Warum würde eine Frau sonst zuerst wegen Vergewaltigung Anzeige erstatten? 

 

SB: Wie kann man denn jetzt ein „Nein“ beweisen?

 

TH: Die Beweisprobleme haben Sie ja auch bisher schon. Ich rufe Ihnen nur nochmal den Fall Kachelmann in Erinnerung. Da ging es um Gewalt! Trotzdem werden Sie immer irgendwo einen Gutachter finden, der am Beweisgefüge rüttelt. Egal wie das Recht aussieht, geschulte Strafverteidiger oder geschulte Strafverteidigerinnen werden immer die Möglichkeit haben, nachzubohren. Das heißt, auch die Gewaltvariante ist gegen Beweisprobleme natürlich nicht gefeit. Das Problem besteht, und das wird auch kein Recht der Welt beseitigen können. 

Wir brauchen geschulte Vernehmungsbeamte. Auch da ist das Bremer Modell interessant, weil es die Bedeutung von vernehmungstaktischen und -psychologischen Fortbildungen der Kriminalpolizei betont. So etwas ist wichtig. Wenn dort ein ungeschulter Vernehmungsbeamter sitzt, ist das nicht hilfreich. Oftmals war das bisher so. 

 

AS: Als Vergewaltigung in der Ehe strafbar gemacht wurde, wurde damals vor dem „Staatsanwalt im Schlafzimmer“ gewarnt. Ähnliche Argumente werden jetzt angeführt, auch in namhaften Medien wie Die Zeit. Was würden Sie hierauf erwidern?

 

 TH: Konkret war der Zeit-Artikel von Frau Rückert [„Das Schlafzimmer als gefährlicher Ort“, Zeit Nr. 28] ein wirklich schlechter Artikel, der teilweise sachlich falsch ist. Ich kenne Frau Rückerts Hintergrund nicht genau, aber sie ist offenbar keine Juristin. Es fiel mir schon bei früheren Artikeln auf – sie schreibt ja schon sehr lange über diese Themen –, dass es ein großes Auseinanderklaffen gibt zwischen Fachwissen und der von Journalisten eigentlich zu erwartenden Bereitschaft, sich die Dinge unvoreingenommen anzuschauen, und ihrer subjektiven Überzeugung, die Wahrheit zu kennen. Das war auch beim Kachelmann-Fall so. In manchen dieser Artikel zeigt sich ein Problem, das ein spezifisches Problem der Medien ist: nämlich eine journalistische Berichterstattung, bei der starke Emotionen und persönliche subjektive Überzeugungen die sachliche Beurteilung überlagern. Frau Rückert sieht die Welt nach ihrem Buch über Falschbeschuldigungen nur noch aus dieser Perspektive. Das ist Grund für Medienkritik (aber kein Rechtsproblem).       

 

SB: Oft wird ja von Gegner_innen angeführt, auch Männer könnten sich jetzt auf dieses neue Gesetz berufen. Das ist doch eigentlich sehr positiv, dass von nun an ein eindeutiges „Nein“ verbindlich ist, unabhängig davon, wer es ausspricht. Woher kommt dann diese Angst vor Falschbeschuldigungen?

 

TH: Das ist eine gute Frage. Natürlich sollte man nicht vergessen, dass Vergewaltigung keineswegs ein Phänomen ist, das nur Frauen betrifft. Auch Männer, vor allem junge Männer in verwundbaren sozialen Situationen, sind von solchen Übergriffen betroffen. Darum wäre es falsch, das Ganze nur in die Kategorie „Männer versus Frauen einzuordnen“. Das Problem ist komplexer. 

Woher kommt die oft übertriebene Angst vor Falschbeschuldigungen? Das Phänomen gibt es, aber mich wundert es, wie disproportional Befürchtungen ausfallen. Ob dahinter Unsicherheiten der jeweiligen Person im Verhältnis zum anderen Geschlecht und Unsicherheiten im Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität stehen? Das sind Hypothesen, die aus psychologischer Sicht näher betrachtet werden müssten. 

 

AS: Zumal die Polizei ja von 3-5% an Falschbeschuldigungen ausgeht.

 

TH: Es kursieren unterschiedliche Studien und unterschiedliche Zahlen. Es gibt die eine Zahl von 3%, die oft genannt wird. Dahinter steht allerdings eine Studie, die wiederum nur misst, wenn jemand wegen Falschbeschuldigung angezeigt wurde. Ein Kollege von mir hatte in einem Artikel in der Juristischen Rundschau die Zahl von 30% ins Spiel gebracht. Die Zahl stammt aus einem Polizeibericht. Das scheint mir überhöht. Aber wirklich nachweisen, wo genau die Zahl der Falschbeschuldigungen zwischen 3%-30% liegt, wäre aus methodischen Gründen äußerst schwierig. Vermutlich näher an 3% als an 30%, aber nachweisen kann ich Ihnen das nicht. 

 

AS: Aber wie sehen Sie denn diese Praxis, dass der Beschuldigte dann noch entschädigt wird?

 

TH: Es ist schwierig zu verhindern. Wenn jemand wie Herr Kachelmann aggressiv versucht, alle, aber auch wirklich alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, und es offensichtlich hinbekommt, dass die entsprechenden Anwälte für ihn arbeiten, dann kann man sehr viel machen. Sie können das juristisch nicht abstellen. Natürlich kann ein Beschuldigter zum Zivilgericht gehen, weil dort die Beweisstandards anders gehandhabt werden. Es gibt einen Unterschied zwischen Zivil- und Strafrecht. Im Strafrecht gilt in dubio pro reo und wird dort auch besonders ernst genommen, weil eine strafgerichtliche Verurteilung – vor allem wenn es um Freiheitsstrafe geht – besonders gewichtig ist. Im Zivilrecht geht es „nur“ um Geld, nicht um eine Freiheitsstrafe.  Es ist ein Schadensersatzprozess – wie bei einem Verkehrsunfall. Für betroffene Frauen kann das Ganze ein Alptraum sein. Wenn man von der Hypothese ausgeht, jemand ist wirklich vergewaltigt worden, dann ist ein Freispruch schwer zu verkraften, und es ist auch noch Schadensersatz zu zahlen. Aber juristisch ist das schwer zu vermeiden. 

 

AS: Das hieße aber, dass man betroffenen Personen die Angst, dass sie möglicherweise auf Schadensersatz verklagt wird, nicht nehmen kann, oder?

 

TH: Tatsächlich nicht, nein. Es kommt im realen Leben allerdings nicht so oft vor, weil die meisten Straftäter, die angeklagt sind, nicht die sozialen und ökonomischen Ressourcen haben, um ihre Gegenwehr so konsequent durchzuziehen wie Herr Kachelmann dies tut. Die meisten sind froh, nach einem solchen Strafprozess wieder in die Unauffälligkeit verschwinden zu können. Bei ihm aber ist die Kombination von Persönlichkeit und Ressourcen ausschlaggebend. 

 

AS & SB: Frau Hörnle, wir danken für das Gespräch.

 

Die Fragen stellten die stellvertretenden zentralen Frauenbeauftragten der HU Amrei Sander und Dr. Sabine Blackmore.
 



Bremer Modell

Das Bremer Modell wurde 1984 zur Bearbeitung von Sexualstraftaten entwickelt und bündelt mehrere Bearbeitungsaspekte innerhalb der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Es basiert auf dem Leitgedanken einer betroffenenorientierten und dem Betroffenenschutz verpflichtenden Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Dabei werden z.B. Betroffene sexualisierter Gewalt nach Möglichkeit nur von Beamt_innen des Fachkommissariats für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und nur ein Mal ausführlich befragt. Die Beamt_innen der Schutzpolizei, die die Anzeige aufnehmen, leiten die betroffenen Personen ggf. sofort an das Fachkommissariat weiter. Damit sollen Mehrfachvernehmungen vermieden werden - zum einen, um die psychische Belastung für die Betroffenen zu verringern, zum anderen, um Widersprüche in der Aussage, die sich aus unterschiedlichen Vernehmungssituationen ergeben können, zu vermeiden

(vgl.Hartmann/Schrage/Boetticher/Tietze (2015): Untersuchungen zu Verfahrensverlauf und Verurteilungsquoten bei Sexualstraftaten in Bremen.)